Thesen zu den Prinzipien der Einheitsfronttaktik und ihrer Anwendung unter den heutigen Klassenkampfbedingungen
Dokument des Internationalen Exekutivkomitees der Revolutionär-Kommunistischen Internationalen Tendenz, 9 April 2016, www.thecommunists.net
Vorwort
I. Charakter und Prinzipien der Einheitsfronttaktik
Ultralinke und opportunistische Gefahren
Die Einheitsfronttaktik, die Arbeiterklasse und andere unterdrückte Schichten und Klassen
Die Einheitsfronttaktik und die nicht-revolutionären Führungen der Arbeiter und Unterdrückten
II. Die verschiedenen Anwendungsbereiche und –formen der Einheitsfronttaktik
Der Kampf um die proletarische Hegemonie in der Einheitsfront
Die Einheitsfronttaktik und bürgerliche Kräfte
Die Einheitsfronttaktik und die Regierungslosungen
Die Einheitsfronttaktik bei den Wahlen
Zusammenfassung
Vorwort
Im Folgenden veröffentlichen wir die Grundsätze und Prinzipien der Revolutionär-Kommunistischen Internationalen Tendenz (RCIT) in der Frage der Einheitsfronttaktik. Diese Thesen verallgemeinern Erfahrung und die Weiterentwicklung von Position, die wir in den vergangenen Jahren gemacht haben. In einer in Kürze erscheinenden Broschüre werden wir unsere Überlegungen zu diesem Thema ausführlicher darlegen.
Die vorliegenden Thesen bauen auf den entsprechenden Thesen unserer Vorläuferorganisation (Liga für eine Revolutionär-Kommunistische Internationale) auf, die wir im Januar 1994 angenommen hatten. Wir haben diese jedoch grundlegend überarbeitet, sodass der vorliegende Text ein neues Dokument darstellt. Abschließend weisen wir darauf hin, dass wenn im folgenden Text von der revolutionären Partei die Sprache ist, damit auch deren Vorstufen, also Parteiaufbauorganisation, gemeint sind.
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I. Charakter und Prinzipien der Einheitsfronttaktik
1. Die Grundprinzipien der Einheitsfront sind einfach. Sie dienen dem Ziel, dass Kommunisten ihren Einfluss in der Arbeiterklasse und den Unterdrückten ausweiten können – oder um es in den Worten der Kommunistischen Internationale auszudrücken „Zu den Massen!“. Die Grundprinzipien der Einheitsfront betreffen alle Abkommen zur begrenzten praktischen Aktion, die eine revolutionäre Partei mit anderen Organisationen des Proletariats, anderer ausgebeuteter Klassen oder ethnisch, national oder sexuell Unterdrückter schließt oder diesen vorschlägt. Sie können mit der militärischen Metapher "Getrennt marschieren, vereint schlagen" zusammengefaßt werden. Damit wird die Kombination der politischen und organisatorischen Unabhängigkeit der proletarisch-revolutionären Kräfte und der Einheit in der Aktion gegen einen gemeinsamen Feind zum Ausdruck gebracht. Das Ziel der Einheitsfronttaktik ist a) die Herstellung der maximalen Einheit der Arbeiter und der Unterdrückten im Kampf gegen die herrschende Klasse und den Imperialismus sowie b) die Brechung der Vorherrschaft der nicht-revolutionären Führungen und die Gewinnung der Arbeiter und Unterdrückten für den von der revolutionären Partei geführten Kampf.
2. Diese Prinzipien regeln die Beziehungen zwischen der revolutionären Avantgarde und anderen Organisationen der Ausgebeuteten und der Unterdrückten im Kampf gegen Kapitalismus, Imperialismus und gegen alle Formen der Reaktion. Sie haben verschiedene Anwendungsbereiche. In erster Linie zielt die Einheitsfronttaktik auf gemeinsame Aktionen mit Massenorganisationen der Arbeiterklasse und in zweiter Linie mit Massenorganisationen anderer unterdrückter und ausgebeuteter Klassen und Schichten (z.B. arme Bauern, städtische Armut). In bestimmten Ausnahmesituationen kann die Einheitsfront sogar Teile der Bourgeoisie umfassen, wenn diese über Masseneinfluss verfügen und durch objektive Umstände gezwungen sind, gegen imperialistische Aggressoren, nationale Unterdrücker etc. zu kämpfen.
3. Die Einheitsfront, der Block oder die Allianz können verschiedene Phasen durchlaufen: den Aufruf, die Verhandlungen zwischen den Organisationen, die Schließung eines Abkommens, ihre praktische Umsetzung und schließlich ihre Aufkündigung bzw. Auflösung. Nur in einer Minderheit von Fällen wird das Bündnis alle diese Stadien durchlaufen.
4. Die Einheitsfront als ein Bündnis, zu dem aufgerufen werden kann, ist von bloß episodischen, zufällig zusammentreffenden Aktionen zu unterscheiden, bei denen kein Abkommen über ein gemeinsames Ziel oder die taktische Koordination geschlossen wird. Solche zufällig zusammentreffenden Aktionen, wie etwa die Unterstützung eines gerechtfertigten Arbeiterstreiks durch eine faschistische Gewerkschaft, bedeuten in keinster Weise die Befürwortung eines Bündnisses. Ebenso muß eine Einheitsfront von der bloßen Teilnahme an einer Massendemonstration unterschieden werden, deren politische Grundlage und deren Führung die revolutionäre Partei ablehnt und für die sie keine Verantwortung übernimmt. In diesem Fall befindet sich die revolutionäre Partei in keinem Block mit der Führung, unterstützt ihre Losungen nicht, sondern kritisiert sie und betreibt Propaganda und Agitation für ihre eigenen Losungen. Kurz gesagt, die Einheitsfront muß mit jenen Organisationen gebildet werden, mit denen das revolutionäre Proletariat prinzipiell befristete Vereinbarungen zur gemeinsamen Aktion schließen kann.
5. Eine andere Unterscheidung ist jene zwischen gemeinsamen politischen Aktionen und einem ausschließlich militärischen Block, einer Vereinbarung, die lediglich die Koordination von Kampfkräften gegen einen gemeinsamen Feind vorsieht. Derartige Vereinbarungen können in einer Kriegssituation mit bürgerlichen Kräften geschlossen werden, ohne in irgendeiner Weise eine Einheitsfront darzustellen. Unter anderen Umständen wiederum könnte jedoch ein militärisches Bündnis, z.B. die Bildung einer antifaschistischen Arbeitermiliz oder Allianzen während eines Bürgerkrieges, einen klaren Einheitsfrontcharakter haben. Die Rolle militärischer Mittel kann nicht das entscheidende Kriterium sein, um den Charakter solcher Blöcke zu bestimmen, da der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist. Die entscheidende Frage ist hier: welches Ziel hat der Block, mit wem wird er eingegangen? Problematischer ist die in manchen Sprachen und nationalen Traditionen getroffene Unterscheidung zwischen einer eigentlichen Einheitsfront unter der eine längerfristige formale Vereinbarung wie eine Kampagne verstanden wird, und gemeinsamen Aktionen oder "Aktionseinheiten", die auf ein Einzelereignis beschränkt bleiben. Was immer die Vorzüge dieser Begriffsscheidungen sein mögen, so ist klar, daß die Grundprinzipien der Einheitsfront für beide gelten.
6. Die zentrale Aufgabe der Einheitsfronttaktik ist die Herstellung möglichst enger Verbindungen zwischen der revolutionären Partei und der Arbeiterklasse in erster Linien und anderer unterdrückter Schichten in zweiter Linie. Solche Verbindungen müssen ständig gegeben sein. Doch sie sind gleichzeitig ständiger Änderung unterworfen, da auch der Klassenkampf selbst sowohl permanent stattfindet als auch seine Formen ändert. Die Einheitsfront ist somit eine "allgegenwärtige" Taktik, das heißt, eine Taktik, die laufend in dieser oder jener Form, in dieser oder jener Arena des Klassenkampfes angewandt wird. Doch keine Form der Einheitsfronttaktik ist ein ständiger Teil der Strategie der revolutionären Partei. Die Einheitsfront selbst ist keine Strategie, sondern eine Taktik, oder, genauer, eine ganze Kategorie von Taktiken innerhalb der Gesamtstrategie des Proletariats. Bei der Anwendung dieser oder jener Form der Einheitsfront müssen Revolutionäre diese Gesamtstrategie und ihre Ziele im Auge behalten: die Erringung der Staatsmacht durch Räte und Milizen der Arbeiter und Bauern sowie die Schaffung einer weltweiten kommunistischen Gesellschaft mit den Mitteln der proletarischen Revolution. Dafür ist eine unabhängige, revolutionäre, bolschewistisch-kommunistische Partei eine unabdingbare Notwendigkeit. Nur eine solche Partei kann die vollständige Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von der Bourgeoisie verkörpern und das Proletariat im Kampf für seine eigene Diktatur führen.
7. Doch um dies zu erreichen, müssen wir anfänglich kleine revolutionäre Kerne zu Massenparteien formen, die das Vertrauen breitester Schichten der Ausgebeuteten gewonnen haben. Heute aber unterstützt die große Mehrheit der Arbeiter weltweit nicht-revolutionäre, ja sogar konterrevolutionäre Organisationen. Revolutionäre müssen den Charakter dieser Organisationen bloßlegen und ihnen die Führung (oder, zutreffender, die Irreführung) des Proletariats und der Unterdrückten entreißen. Dazu reicht das bloß propagandistische Entlarven ihrer Fehler und Verbrechen nicht aus. Es ist notwendig, in der Praxis zu demonstrieren, dass die reformistisch, kleinbürgerlich-populistisch, oder zentristisch geführten Organisationen nicht wirklich in der Lage sind, die Interessen der Arbeiter und Unterdrückten zu verteidigen oder für sie zu kämpfen. Die revolutionäre Partei muß eine Reihe von Taktiken anwenden, um den Massen im Klassenkampf selbst zu zeigen, daß sie die einzige konsequente Partei der Arbeiterklasse ist. Die Partei selbst muß lernen, wirkliche Massenkämpfe anzuleiten, um sich als tatsächliche Führungsalternative unter Beweis zu stellen. Dabei muß sie sowohl ihre selbständige Initiative als auch ihre Fähigkeit zeigen, die eigenen Kräfte loyal mit denen anderer Massenorganisationen der Arbeiterklasse und der Unterdrückten zu koordinieren. So kann die Masse, die noch nicht für eine revolutionäre Führung gewonnen ist, in den Tageskämpfen Vertrauen in die Kommunisten sammeln und durch Vergleich deren Vorzüge gegenüber der Halbherzigkeit und dem Verrätertum der reformistischen und kleinbürgerlich-populistischen Führer erkennen. Darin besteht die entscheidende Rolle, die die Einheitsfronttaktik für den Aufbau der revolutionären Partei spielt.
8. Der dauerhafte Erfolg einer korrekten Einheitsfrontpolitik besteht in der Aufdeckung der Beschränktheit des Reformismus, kleinbürgerlichen Populismus, Islamismus, Anarchismus, Syndikalismus, Zentrismus und diverser bürgerlicher und kleinbürgerlicher Ideologien und Programme innerhalb der Arbeiterklasse sowie schlußendlich der Ersetzung aller schwankenden und inkonsequenten Führungen durch revolutionär-kommunistische. In jeder Phase sollte die Einheitsfronttaktik die revolutionäre Organisation durch vermehrten Mitgliederzuwachs und breitere Verankerung in den Massenorganisationen stärken.
9. Die Einheitsfront ist jedoch nicht nur ein Mittel des Parteiaufbaus. Sie ist eine Klassenkampftaktik, mit der die breitestmögliche Kampfeinheit der ausgebeuteten und unterdrückten Massen trotz deren politischer Differenzierung hergestellt werden soll. Der Zweck dieser Einheit ist es, die Angriffe der Bosse und der bürgerlichen Regierungen zurückzuschlagen und bessere ökonomische, soziale und politische Bedingungen für die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten auf eine Weise zu schaffen, die das Ziel des Sturzes des Kapitalismus näher rückt. In diesem Sinn entspringt die Einheitsfront in erster Linie den Bedürfnissen des Klassenkampfes. Daher reagieren Revolutionäre nicht nur auf Aufrufe zur gemeinsamen Aktion gegen den Klassenfeind, sondern initiieren selbst möglichst als erste einen solchen Aufruf, sobald der Klassenkampf die gemeinsame Aktion erfordert.
10. Aus diesen beiden Überlegungen ergibt sich einerseits, daß die Einheitsfronttaktik das Bestehen einer unabhängigen revolutionären Organisation voraussetzt, die auf einem Übergangsprogramm zur Erringung der Staatsmacht und zum Sturz des Kapitalismus basiert. Diese Partei muß sich an der Einheitsfront als eine selbständige "Abteilung" beteiligen und darf sich nicht etwa in ihr auflösen. Zum anderen setzt die Einheitsfrontpolitik die Existenz breiter nichtrevolutionärer Massen unter dem Einfluß anderer politischer Kräfte voraus.
11. Die Einheitsfront kann nicht als ununterbrochene Folge von Aktionen mit ein und demselben politischen Partner bis hin zur und einschließlich der Ergreifung der Macht verstanden werden. Ihre wiederholte Anwendung ist nur ein Bündel von Taktiken im Rahmen der Gesamtstrategie der proletarischen Avandgardepartei. Diese Strategie umfaßt notwendigerweise auch selbständige Aktionen der Partei. Einheitsfronten werden in recht unterschiedlichen Formen fortwährend geschlossen und aufgekündigt. Niemals sollen sie zu einer systematischen Unterordnung der proletarischen Avantgarde unter eine beschränkte Plattform von Forderungen, die für die Führungen verschiedener nichtrevolutionärer Massenorganisationen akzeptabel sind, verkommen. Das würde bedeuten, das revolutionäre Programm selbst zur passiven Propaganda herabsinken zu lassen und die Agitation auf Tagesforderungen oder bestenfalls Übergangsforderungen zu beschränken.
Ultralinke und opportunistische Gefahren
12. Die Einheitsfront ist eine in sich differenzierte Einheit. Sie bedeutet einerseits gemeinsame Aktion für beschränkte, klar umrissene Ziele. Sie bedeutet andererseits aber auch schärfste Kritik an den Einheitsfrontpartnern. Ohne das eine können die kapitalistischen Angriffe nicht abgewehrt oder neue Erfolge erreicht werden. Ohne das andere aber wird weder das Erreichte gesichert, noch die Sache der Revolution weitergebracht. Die Fehler bei der Anwendung der Einheitsfronttaktik beginnen, wenn diese differenzierte Einheit zugunsten einer formalen Identität zwischen den Aufgaben einer revolutionären Organisation und den begrenzten, unmittelbaren Tagesforderungen der Arbeiterklasse aufgegeben wird.
13. Ultralinkstum in der Einheitsfronttaktik entsteht immer dann, wenn das revolutionäre Programm in Gegenüberstellung zu jenen Forderungen entwickelt wird, die für die unmittelbaren Aufgaben entscheidend sind, die sich der Masse der Arbeiterklasse stellen. Ultralinke behandeln die Einheitsfront als ein Ultimatum, dessen Ablehnung durch Reformisten und Zentristen geradezu heraufbeschworen wird, in der falschen Hoffnung, daß sich diese dadurch entlarven würden. Diese "Entlarvung" ist aber bloß literarischer Natur. In Wirklichkeit entlarven sich die reformistischen Führer nicht, weil sie keine revolutionäre Strategie oder Taktik verfolgen, sondern weil sie unfähig sind, für die unmittelbaren Bedürfnisse der Massen zu kämpfen. Die Sektierer vermeiden es jedoch aus Furcht, opportunistischen Versuchungen zu erliegen, sich im praktischen Terrain des Klassenkampfs zu beweisen.
14. Die Opportunisten wiederum orientieren ihre Kampfplattformen oder Einzelforderungen nicht an den objektiven Notwendigkeiten des Klassenkampfes, sondern daran, was das aktuelle Bewußtsein der Massen gerade sei oder ‑ noch schlimmer ‑was deren Führer vermutlich zu akzeptieren bereit sind. Im Gegensatz dazu stehen Einheitsfrontplattformen, die Revolutionäre vorschlagen: Sie umfassen zwar in der Regel auch nicht das "volle Programm", gehen aber deutlich über die feigen Vorschläge der reformistischen Führer und auch über das gesellschaftlich-durchschnittliche Massenbewußtsein hinaus. Gleichzeitig müssen die für die Einheitsfront vorgeschlagenen Losungen an das Bewußtsein der fortgeschrittenen Arbeiterinnen und Arbeiter anknüpfen, um sie für einen gemeinsamen Kampf und das Ausüben eines entsprechenden Drucks auf die reformistischen Führer gewinnen zu können. Das Ziel der Einheitsfront muß es sein, das aktuelle Bewußtsein der Massen (insbesondere ihrer fortgeschrittenen Schichten) mit den drängenden Aufgaben des Tages zu verbinden, die sich aus dem Charakter der Angriffe des Klassenfeindes ergeben. Die Losungen der Einheitsfront müssen es der revolutionären Avantgarde erlauben, die Massen in den Kampf zu führen.
15. Da die Einheitsfront keine Strategie ist, gibt es kein "Einheitsfrontprogramm", das nahtlos von den heutigen Kämpfen bis zur Machtergreifung führe. Die revolutionäre Partei stellt jene Teile ihres Programms in den Vordergrund, die notwendig erscheinen, um größere Kräfte im praktischen Kampf zu vereinen. Ausgehend vom jeweiligen Charakter des Angriffs und dem Kräfteverhältnis der Klassen stellt sie konkrete Losungen und Forderungen auf, die in ihrer Gesamtheit zu einer Kampfeinheit führen, um den Angriff zurückzuschlagen oder neue Fortschritte zu machen.
16. Der Charakter der Forderungen, für die in der Einheitsfront gekämpft wird, läßt sich nicht schematisch kategorisieren. Die Forderungen müssen spezifisch und klar umrissen sein. Alle künstlich aufgesetzten, nicht zur Sache gehörenden Forderungen oder ideologischen Einkleidungen, die nicht zur Erreichung des gemeinsamen Zieles dienen, müssen vermieden werden. Ein konkreter Einheitsfrontvorschlag kann durchaus nur einen Typ von Forderungen enthalten: z.B. unmittelbar ökonomische Forderungen, demokratische Forderungen, Übergangsforderungen. Oder er kann als Plattform verschiedener Forderungen angeboten oder geschlossen werden, die durch eine zusammenhängende Serie von Aktionen miteinander verknüpft sind, um einer besonderen Krise zu begegnen. Er kann aber auch nur aus einer einzigen Forderung bestehen. Einheitsfronten können demnach auf eine einzige Aktion beschränkt bleiben ‑ z.B. einen Streik, eine bewaffnete Aktion ‑, sie können aber auch die Form einer längeren Kampagne annehmen. Zulässige Kritik an einem Einheitsfrontvorschlag kann nur darin bestehen, daß eine notwendige Aktionsforderung fehlt, für die die Massen gewonnen und durch die ihre Führer entlarvt werden können, falls sie die Forderung ablehnen. Dass zahlreiche revolutionäre Forderungen in einer Einheitsfrontplattform fehlen, kann nicht als zulässige Kritik gelten. Tatsächlich ist das Vorhandensein derartiger Forderungen in einer nicht-revolutionären Situation ist ein sicheres Zeichen für passiven Propagandismus, Scholastizismus und Sektierertum. Unter den Bedingungen eines Massenaufschwungs im Klassenkampf ist es andererseits unabdingbar, für solche revolutionäre Forderungen als den besten Ausdruck der Einheitsfront zu kämpfen.
17. Die Forderungen müssen mit klaren und eindeutigen Kampfmethoden (z.B. Demonstrationen, Streiks, Selbstverteidigungsgruppen, bewaffnete Milizen) und Organisationsformen (z.B. Streikkomitees, Mobilisierungskomitees, Räte) verbunden werden. Die Einheitsfront kann so, abhängig vom Charakter des Angriffs, in Form und Dauerhaftigkeit variieren. Komitees, die eine Reihe verschiedener oder wiederholter Aktionen zur Erreichung des gemeinsamen Kampfziels koordinieren, sind Einheitsfrontorganisationen; in diesem Sinn ist die Einheitsfront mehr als die Aktion selbst (z.B. eine Demonstration), sondern schließt auch deren Vorbereitung und Bilanzierung ein.
Die Einheitsfronttaktik, die Arbeiterklasse und andere unterdrückte Schichten und Klassen
18. Mit welchen Kräften kann eine Einheitsfront oder ein Bündnis bzw. ein Block, welches/r auf Einheitsfrontprinzipien basiert, eingegangen werden? Darauf gibt keine ewiggültige Antwort. Es kommt auf die Situation, den Typ des jeweiligen Landes (imperialistisches Land, Halbkolonie, degenerierter Arbeiterstaat), die Ziele des Kampfes, die involvierten Klassenkräfte und den Grad der Klassendifferenzierung an. Als allgemeine Richtschnur gilt, daß Revolutionäre die Einheitsfronttaktik auf Kräfte ausrichten, die in der Arbeiterklasse und anderen unterdrückten Schichten und Klassen eine Massenverankerung besitzen (in der Regel reformistische oder kleinbürgerlich-populistische Organisationen; in Ausnahmefällen auch bürgerliche oder manchmal sogar auch zentristische Organisationen) und die objektiv im Gegensatz zu bzw. in einer Konfrontation mit reaktionären Kräften stehen (z.B. herrschende Klasse, imperialistische Mächte, rassistische oder faschistische Kräften).
19. Die Volksfront ist ein Block zwischen bürgerlichen Kräften und Arbeiterorganisationen, in dem letztere Programme akzeptieren, die die Arbeiter in die vom Privateigentum vorgegebenen Grenzen zwängen und den bürgerlichen Staat verteidigen. Eine Einheitsfront unterscheidet sich von einer Volksfront nicht durch die Teilnahme offen bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Kräfte als solches, sondern durch die politische Unterordnung des Proletariats unter die Plattform der Bourgeoisie.
20. Solch ein Block kann genauso gefährlich sein, wenn er mit sehr schwachen bürgerlichen Kräften eingegangen wird (gewissermaßen mit dem "Schatten der Bourgeoisie"). Arbeiterparteien, die solche falschen Einheitsfronten "zur Verteidigung der Demokratie" schlossen, endeten bei der Verteidigung von Bourgeoisie und Kapitalismus gegen das Proletariat (Spanien 1936, Chile 1973, Griechenland 2015). Die Volksfront ist, wie Trotzki sagte, eine Schlinge um den Hals des Proletariats.
21. Keine Volksfront hat jemals dem Sozialismus den Weg bereitet. Im Gegenteil: Immer wieder haben Volksfronten der Konterrevolution gegen die Arbeiterklasse die Tore geöffnet. Wirkliche Trotzkisten kämpfen stets gegen Volksfronten. Sie sind für die Einheit der Arbeiterklasse bzw. für das Bündnis der Arbeiterklasse mit den armen Bauern und der städtischen Armut und für die Unabhängigkeit von der Bourgeoisie. Wir stellen an alle Arbeiterparteien und Gewerkschaften, die von ihren Führungen auf den Weg der Klassenkollaboration und Volksfront geleitet werden, die Forderung, mit den Parteien der Kapitalisten zu brechen, die Rechte der Arbeiter zu verteidigen und den Kampf für die Arbeitermacht aufzunehmen. Solche Forderungen zum Bruch mit der Bourgeoisie richten sich ebenso an kleinbürgerlich-populistische Kräfte, die über eine Massenverankerung unter den Arbeitern und Unterdrückten verfügen (z.B. castro-chavistische Organisationen in Lateinamerika, bestimmte islamistisch-populistische Organisationen im Nahen Osten), wie dies auch schon die Bolschewiki gegenüber den Sozialrevolutionären in Rußland bis 1917 praktizierten.
22. Natürlich existieren bestimmte Unterschiede in der Anwendung der Einheitsfronttaktik sowohl zwischen den imperialistischen und den halbkolonialen Ländern als auch zwischen verschiedenen Ländern innerhalb dieser beiden Gruppen. In Westeuropa, Kanada sowie in Australien spielen bürgerliche Arbeiterparteien eine wichtige Rolle innerhalb der Arbeiterklasse, durchlaufen aber gleichzeitig einen massiven Verbürgerlichungsprozeß. In anderen imperialistischen Ländern existieren hingegen keine bürgerlichen Arbeiterparteien (USA, China, Russland) oder nur schwache (Japan). In den Ländern des Südens (wo mittlerweile ¾ des Weltproletariats leben) existieren zumeist keine oder nur schwache bürgerliche Arbeiterparteien (wichtige Ausnahmen sind Indien oder Südafrika). Hingegen spielen dort radikale (klein)bürgerlich-populistische Formationen oft eine einflussreiche Rolle innerhalb der Arbeiterklasse und der Unterdrückten. Kleinbürgerlich-populistische Formationen nehmen öfters auch einen wichtigen Platz unter den Migranten in den imperialistischen Ländern ein – einem massiv wachsenden Teil der Arbeiterklasse. In bestimmten Fällen können sogar neue kleinbürgerlich-populistische Kräfte in imperialistischen Ländern eine einflußreiche Rolle unter Teilen der Arbeiter und der Jugend spielen (z.B. Occupy-Bewegung, PODEMOS in Spanien)
23. In den Kolonien oder Halbkolonien existieren Bedingungen, unter denen sogar manchmal die nationale Bourgeoisie bzw. Teile von ihnen gezwungen sein kann, ein Bündnis mit den unterdrückten Klassen gegen reaktionäre Kräfte einzugehen. Dies gilt ebenso für bürgerliche Kräfte besonders unterdrückter Gruppen in den imperialistischen Ländern (z.B. Migranten, unterdrückte Nationen). Die nationale Bourgeoisie kann ihrerseits durch das imperialistische Großkapital kurzgehalten und ausgebeutet, durch nationalen Unterdrückung benachteiligt, durch eine imperialistische Militärintervention oder ein lokales Marionettenregime unterdrückt werden. Unter diesem Druck bedienen sich bürgerlich-nationalistische Parteien nicht nur einer antiimperialistischen Rhetorik, sondern können in seltenen Fällen auch in einen wirklichen Kampf gegen die Imperialisten und ihre Handlanger eintreten.
24. Zumeist ist es dann das radikale Kleinbürgertum, das sich in diesen Kämpfen – inkonsequent freilich – engagiert und mit dem das Proletariat daher eine demokratische oder antiimperialistische Einheitsfront eingehen kann. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, daß auch eine bürgerliche Partei mit einem starken plebejischen Anhang den gleichen Schritt macht. Unter dieser Voraussetzung kann auch diese zum möglichen Partner einer demokratischen oder antiimperialistischen Einheitsfront werden. Vorausgesetzt, die Arbeiterklasse bindet dadurch nicht ihre Hände, gibt den Kampf um die Macht nicht auf und stellt nicht die politische Unterstützung einer bürgerlichen Regierung in Aussicht, wäre eine solche Einheitsfront keine Volksfront.
25. Ebenso können in Halbkolonien (und unter ganz besonderen Umständen sogar in imperialistischen Ländern und degenerierten Arbeiterstaaten) politisch bürgerliche Kräfte, die einen plebejischen oder sogar proletarischen Massenanhang haben und systematische soziale Unterdrückung erleiden (z.B. ethnische oder nationale Minderheiten, Frauen), an auf Einheitsfrontprinzipien basierenden Aktionen teilnehmen, ohne daß es sich dabei um eine Volksfront handelt. Klarerweise wären die Zielsetzungen defensiv und sowohl nach Dauer und Umfang beschränkt.
26. Die Schlüsselfrage wäre, ob die Forderungen, für die solche Kräfte kämpfen, in dieser Situation ausreichend oder notwendig für den eigenen Kampf der Arbeiter und Unterdrückten sind. Bürgerliche Parteien der ethnisch oder national Unterdrückten oder bürgerliche Frauenorganisationen können in gemeinsame Aktionen oder Kampagnen eingebunden werden, vor allem dort, wo ihre Führungen das Vertrauen breiter Schichten der Unterdrückten, speziell der sozial unterdrückten Arbeiter und Arbeiterinnen, genießen. Für die revolutionäre Partei bestünde das Ziel einer solchen gemeinsamen Aktion neben der Maximierung der Kräfte gegen die bürgerliche Reaktion darin, die proletarische Basis von der bürgerlichen Führung der Unterdrückten wegzubrechen. Die gemeinsame Aktion würde diese Führer und Führerinnen im Kampf entlarven.
Die Einheitsfronttaktik und die nicht-revolutionären Führungen der Arbeiter und Unterdrückten
27. Ob eine Einheitsfront zulässig oder nicht zulässig ist, hängt durchaus nicht vom "politischen Leumund" der Führer der anderen Organisationen ab. Wenn die Einheitsfront mit proletarischen und bäuerlichen Massenorganisationen unter der Führung eines Kerenski, eines Noske, eines Chiang Kai-shek oder eines Stalin notwendig war, die für den Mord an revolutionären Arbeitern und Bauern verantwortlich waren, können wir die Einheitsfront mit den heutigen Führern und Führerinnen nicht ausschließen. Die Einheitsfront mit konterrevolutionären Führern ist ein notwendiges Übel. Daher der berühmte Ausspruch, daß die Einheitsfront "mit dem Teufel und seiner Großmutter" geschlossen werden könne. Ein Einheitsfrontangebot ist kein Vertrauensvotum an diese Führung.
28. Die Freiheit der Kritik an diesen Führern und Führerinnen ist während der ganzen gemeinsamen Aktion ein unabdingbares Prinzip der Einheitsfront. Diese Kritik muß sich sowohl gegen die Schwankungen der Blockpartner beim Kampf um die Ziele der Einheitsfront als auch gegen ihre allgemeineren politischen Fehler richten. Daher soll es keine gemeinsame Propaganda geben, die ja nur um den Preis des Verschweigens wichtiger, ja entscheidender Unterschiede zwischen Reform und Revolution zustande kommen kann. Die einzig gestatteten Materialien sind gemeinsame Publikationen, die mit der Einheitsfront zusammenhängen (z.B. Bulletins von Streikkomitees, mobilisierende Flugblätter für Demos etc.) und die auf die Propagierung der Einheitsfrontforderungen und –ziele ausgerichtet sind. Das genaue Verhältnis von gemeinsamer Aktion und Kritik an den Einheitsfrontpartnern folgt keiner im Voraus festgelegten fixen Formel. Wir behalten uns das Recht vor, unsere Partner vor, während und nach der gemeinsamen Aktion zu kritisieren. Wann und wie wir dieses *Recht ausüben, hängt von der konkreten Einschätzung der gegebenen Umstände ab. Doch daß Kritik geübt wird, ist obligatorisch.
29. Ein Einheitsfrontangebot muss sich sowohl an die Basis als auch an die Führung richten. Wir lehnen die Idee der "Einheitsfront von unten" als selbstzerstörerische, ultralinke Falle ab. Könnten die Arbeiter und Arbeiterinnen durch einen solchen direkten, nur an sie gerichteten Appell dazu gebracht werden, mit ihren Führern zu brechen, würde überhaupt keine Notwendigkeit für die Einheitsfront bestehen. Der Zweck eines Einheitsfrontangebots an die Führer und Führerinnen ist es, diese in die Aktion hineinzuziehen. Durch diese Erfahrung können wir den Massen, anders als durch bloß literarische Entlarvungen, beweisen, daß die politischen Beschränkungen ihrer Führung fatal sind.
30. In der großen Mehrzahl der Fälle wird die Einheitsfront nur ein Angebot bleiben und es wird zu keinem formalen Bündnisschluß mit den reformistischen, populistischen etc. Führern kommen. In diesen Fällen verbleibt die Einheitsfront auf dem Niveau einer populären, auf die Basis der nicht-revolutionären Organisationen zielenden Propagandakampagne.
31. Selbst dort, wo radikalisierte Arbeiter in einem gewissen Ausmaß erfolgreich von den Führern und Führerinnen weggebrochen wurden, bleibt die Einheitsfront für die Arbeiter und Arbeiterinnen, die ihnen weiter folgen, in vollem Umfang gültig. Die Einheitsfront von unten, die vor allem an die Basis gerichtet ist, kann manchmal notwendig werden, wenn ihre Führung es abgelehnt hat, gemeinsam mit den Revolutionären zu agieren. In diesem Fall muß die öffentliche Brandmarkung dieser Führer mit an die Basis gerichteten Aufrufen zur Aktion unter revolutionärer Führung einhergehen. Doch auch hier ist es Teil der Taktik, auf die reformistischen Führer einen Druck zum Handeln auszuüben, was, wenn es gelingt, nur den Effekt haben kann, immer breitere Arbeiterschichten für die Aktion zu gewinnen.
32. Die Einheitsfront zu brechen, kann ebenso wichtig sein, wie sie zu schließen. Sobald die Einheitsfront ihre Schuldigkeit getan, ihr Ziel erreicht oder verfehlt hat, muß sie entweder neudefiniert oder aufgekündigt werden und die Lehren müssen daraus gezogen werden. Folgende Umstände können den Bruch der Einheitsfront notwendig machen: Wenn die Einheitsfront nur als diplomatische oder akademische Übung weitergeführt wird und keine Verpflichtung zum Handeln beinhaltet; wenn die Einheitsfrontpartner die Einheitsfrontziele durch Passivität oder Kompromisse mit dem Klassenfeind sabotieren oder unterminieren; wenn sich die Einheitsfrontpartner weigern, die Ausweitung der Front auf andere Massenorganisationen ernsthaft zu verfolgen, sondern diese auf sektenhafte Proportionen beschränken. Aber gleichzeitig müssen Revolutionäre versuchen, den gemeinsamen Kampf mit der Basis weiterzuführen, selbst die Führung zu übernehmen und die besten Elemente aus den nicht-revolutionären Organisationen zu gewinnen.
33. Kurzfristige Blöcke mit kleinen zentristischen Organisationen ohne Masseneinfluss zum Zwecke der Organisierung praktischer Aktionen können durchaus legitim sein und unterliegen denselben Prinzipien wie die Einheitsfront. Sie können aber, wie Trotzki immer wieder betonte, aufgrund des fehlenden Einflusses dieser Organisationen in der Arbeiterklasse und Unterdrückten nicht wirklich als Einheitsfronten bezeichnet werden. Sie sollten für kleine kommunistische Aufbauorganisationen nur eine zweitrangige Rolle – gegenüber der auf die Massenorganisationen gerichteten Tätigkeit – spielen.
34. Obige Überlegungen müssen unbedingt beachtet werden, wenn eine Einheitsfront prinzipienfest sein soll. Doch sie allein garantieren weder die Prinzipienfestigkeit noch den Erfolg der Einheitsfront. Einzig die konkrete Analyse der konkreten Situation kann die korrekte Grundlage für einen Einheitsfrontvorschlag liefern. Führungsqualitäten und Erfahrung, erworben durch jahrelange Intervention in den Klassenkampf, sind erforderlich, um zu bestimmen, welche Einheitsfrontforderungen notwendig und zulässig sind und an welche politischen Kräfte diese zu richten sind. Jedoch können Revolutionäre viele grundlegende und unnötige Fehler vermieden werden, wenn sie den Sinn und die Grundprinzipien der Einheitsfront und ihren Platz in der revolutionären Gesamtstrategie verstehen.
II. Die verschiedenen Anwendungsbereiche und –formen der Einheitsfronttaktik
35. Die Einheitsfronttaktik wurde von den Bolschewiki entwickelt und erstmals 1922 vom Vierten Kongress der Kommunistischen Internationale (Komintern) kodifiziert. Zu dieser Zeit verebbte die revolutionäre Welle nach dem Ersten Weltkrieg. Weltweit war die Bourgeoisie in der Offensive und die jungen Kommunistischen Parteien hatten es in den meisten entwickelten kapitalistischen Ländern verabsäumt, eine Mehrheit der Arbeiterklasse zu gewinnen. Gleichzeitig begann in den kolonialen und halb-kolonialen Ländern eine Welle eine Welle von anti-imperialistischen Befreiungskämpfen. In diesen Ländern stellte die Arbeiterklasse jedoch noch eine kleine Minderheit dar und bürgerliche Kräfte verfügten oft über großen Einfluss bei der Großteils kleinbürgerlich-bäuerlich geprägten Bevölkerung. Unter diesen Bedingungen entwickelten die Komintern die Arbeitereinheitsfronttaktik sowie die Taktik der anti-imperialistischen Einheitsfront.
36. Seit den 1920er und 1930er Jahren haben natürlich eine Reihe wichtiger Veränderungen stattgefunden. Während damals der Großteil des Weltproletariats in den alten imperialistischen Zentren beheimatet war, ist es heute umgekehrt und der Schwerpunkt des Proletariats hat sich in den Süden verlegt. Gleichzeitig kommt es zu einer immer größeren Spaltung innerhalb des Proletariats in den imperialistischen Metropolen zwischen der privilegierten Arbeiteraristokratie (der traditionellen Hauptstütze der reformistischen Parteien und Gewerkschaften) und der breiten Masse der Arbeiterklasse. Sozialdemokratie und Stalinismus durchliefen seitdem einen massiven Verbürgerlichungsprozess und wurden in den bürgerlichen Staat integriert. Gleichzeitig entstanden neue Schichten radikalisierter und zumeist junger Arbeiter und Unterdrückter. Allerdings fand auch eine massive Schwächung der authentisch revolutionären Kräfte statt und Radikalisierungen drücken sich heute oft in der Entstehung neuer populistischer oder radikal-reformistischer Formationen aus. Revolutionäre müssen diese Veränderungen aufmerksam studieren und in ihrem taktischen Arsenal berücksichtigen. Sie müssen die von der Komintern und später der Vierten Internationale entwickelten Methode auf die gegenwärtigen konkreten Verhältnisse anwenden und dabei Veränderungen berücksichtigen, welche politischen (klein)bürgerlichen Kräfte einen vorherrschenden Einfluss in der Arbeiterklasse und den unterdrückten Schichten ausüben. Klar ist, dass diese Entwicklungen die Anwendung der Einheitsfronttaktik keineswegs überflüssig, sondern sogar noch dringlicher macht.
37. Die marxistische Einheitsfronttaktik beinhaltet erstens die Arbeitereinheitsfront. Diese setzte sich die breitestmögliche Einheit der Arbeiterklasse im konkreten Kampf gegen die Bourgeoisie sowie das Wegbrechen des Proletariats von seinen reformistischen und populistischen Führern zum Ziel. Darüberhinaus gibt es auch die demokratische oder anti-imperialistische Einheitsfront. Diese zielt darauf ab, unter der Führung des Proletariats eine Allianz mit nicht-proletarischen unterdrückten Klassen im Kampf gegen die Reaktion (Rassismus, Diktatur, Imperialismus etc.) herzustellen und dabei die Führung den (klein)bürgerlichen Kräfte zu entreißen.
38. Diese Unterscheidung darf nicht in einem schematischen Sinne verstanden werden. Im wirklichen Leben gibt es oft Überschneidungen und Kombinationen mit Merkmalen beider Typen. In jedem Fall gelten, mit gewissen Ausnahmen, für alle Arten der Einheitsfront grundsätzlich die gleichen Prinzipien. Wie bereits oben erwähnt spielen bürgerliche Arbeiterparteien (Sozialdemokratie, Stalinisten, etc.) nur in relativ wenigen Ländern – v.a. in Westeuropa – eine zentrale Stellung in der Arbeiterklasse. Darüberhinaus verbürgerlichen diese Parteien in rasantem Tempo. Die Arbeitereinheitsfronttaktik zielt daher oft nicht nur auf klassisch reformistische Organisationen ab, sondern oft auch auf (klein)bürgerliche-populistische Kräfte, die über einen nennenswerten Einfluss in der Arbeiterklasse verfügen. Darüberhinaus gibt es zahlreiche politische Klassenkämpfe (gegen imperialistischen Krieg, gegen Rassismus, für demokratische Rechte etc.) die von ihrer Natur her nicht nur Organisationen der Arbeiterklasse, sondern auch anderer unterdrückter Schichten und Klassen mobilisieren.
Der Kampf um die proletarische Hegemonie in der Einheitsfront
39. Zentrale Aufgabe von Revolutionären ist es, in der Anwendung der Einheitsfronttaktik immer den Kampf für die proletarische Hegemonie ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit zu stellen. Dies bedeutet v.a. die Stärkung der revolutionären Kräfte auf Kosten der politisch bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräfte (Sozialdemokratie, Stalinisten, kleinbürgerliche Populisten, Islamisten etc.), die durch ihre politische Abhängigkeit von der Bourgeoisie ein Hindernis für die politische Klassenunabhängigkeit des Proletariats und der anderen unterdrückten Schichten darstellen. Darüberhinaus bedeutet es, die Bildung einer Allianz mit den bäuerlichen und anderer unterdrückter Schichten unter Führung des Rolle des Proletariats voranzutreiben.
40. Die Einheitsfronttaktik hält kommunistische Parteien dazu an, Forderungen an Reformisten, kleinbürgerlichen Populisten, Zentristen usw. zu stellen, um die Interessen und Organisationen der Arbeiter und der Unterdrückten gegen die Offensive der herrschenden Klasse zu verteidigen. Der Slogan der Komintern lautete' "Getrennt marschieren, vereint schlagen". Außerdem fordern die Kommunisten, dass die nicht-kommunistischen Organisationen der Arbeiterklasse sowie der Bauernschaft, städtischen Armut, unterdrückter Nationen, Migranten usw. (Parteien, Gewerkschaften etc.) mit der Bourgeoisie brechen und den Kampf um Arbeiter- und Volksräte und -milizen aufnehmen.
41. Das Ziel der Einheitsfront ist die größtmögliche Einheit im Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie bzw. einer Allianz des Proletariats mit seinen verbündeten unterdrückten Schichten gegen die herrschende Klasse und Imperialismus. In ihrem Zentrum steht der Kampf für die Klassenunabhängigkeit von der Bourgeoisie und imperialistischen Mächten. Ihr leitendes Prinzip ist die Aufforderung der revolutionären Partei an die reformistischen und populistischen Führer der bedeutenden oder großen Organisationen der Arbeiter und Unterdrückten: "Brecht mit der Bourgeoisie!" Sie kann daher sowohl für die eingeschränktesten defensiven Aktionen als auch für eine Offensive gegen die gesamte kapitalistische Ordnung Anwendung finden. In vorrevolutionären und revolutionären Situationen kann sie bis zur Aufforderung "Brecht mit der Bourgeoisie; schlagt den Weg zum Kampf um eine Arbeiterregierung bzw. einer Arbeiter und Bauernregierung ein!" entwickeln.
42. Ein wichtiges Anwendungsgebiet der Einheitsfront sind die Gewerkschaften und ähnliche Massenorganisationen. Doch die Einheitsfront kann nicht auf die Gewerkschaften beschränkt werden, wie es die Bordigisten versuchten. Sie wendet sich mit gleicher Kraft – und in Zeiten des verschärften Klassenkampfes mit noch größerer Energie – den politischen Parteien zu, die behaupten, Arbeiterparteien zu sein bzw. die Interessen der Unterdrückten zu vertreten und die momentan auch tatsächlich nennenswerte Teile des Proletariats oder der Bauern und anderer unterdrückter Schichten organisieren. Das Ziel besteht hier darin, die reformistischen und populistischen Führer aus ihren Gewerkschaftsbüros, ihren Parlamentskämmerchen, von ihren Banketten und geheimen Treffen mit dem Klassenfeind heraus zu bringen und zur Teilnahme am Klassenkampf zu zwingen – d.h. zur Teilnahme an Massendemonstrationen, Streikposten und, unter revolutionären Bedingungen, sogar auf die Barrikaden. Die Tatsache, daß diese Führer erwiesenermaßen Agenten der Bourgeoisie sein können, kann kein Argument sein, ihnen die Einheitsfront nicht anzubieten. Maßgebend ist dabei, daß diese Verräter noch immer das Vertrauen von und die Kontrolle über große Massen des Proletariats besitzen und die revolutionäre Partei noch nicht das Vertrauen oder die organisatorische Führung dieser Massen gewonnen hat.
43. Revolutionäre sollten die Einheitsfronttaktik sowohl in den imperialistischen als auch in den halbkolonialen Ländern in erster Linie auf Arbeiterorganisationen bzw. Massenorganisationen mit starken Wurzeln in der Arbeiterklasse anwenden. Dies betrifft natürlich Gewerkschaften, Arbeiterparteien aber auch andere Organisationen (proletarische Frauen-, Migranten- oder Jugendorganisationen, etc.). Als Beispiele seien neben den Gewerkschaften und anderen proletarischen Massenorganisationen auch bürgerliche Arbeiterparteien (v.a. Sozialdemokratie, Stalinisten) ebenso wie neuere Arbeiterparteien (wie z.B. die frühere Democratic Labor Party in Südkorea oder die Partido de los Trabajadores in Bolivien) genannt. In den seltenen Fällen, wo Zentristen über Masseneinfluss verfügen, gilt es, diese Taktik auch auf sie anzuwenden (z.B. die FIT in Argentinien).
44. Darüberhinaus spielt die Einheitsfronttaktik auch im Kampf gegen den Faschismus eine zentrale Rolle (anti-faschistische Einheitsfront). Dabei muss jede faschistische Bewegung konkret bestimmt und von Formen des Rechtspopulismus und des Bonapartismus unterschieden werden. Der Faschismus zielt auf ein „besonderes Staatssystem, begründet auf der Ausrottung aller Elemente proletarischer Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft“ (Trotzki). Diese Art der Einheitsfront ist von anderen Formen der Einheitsfront (Kampf um Demokratie usw.) nicht zu trennen, es gelten dieselben Regeln und Prinzipien wie bei anderen Formen der Einheitsfront. Die autonomen und linkssektiererischen Ansätze neigen dazu, den antifaschistischen Kampf aus ihrem Kontext (sozialer und demokratischer Kampf) herauszulösen. Daraus resultieren zwei grundsätzliche Fehler: a) Die Stellvertreterpolitik (antifaschistische Aktivisten ersetzen die revolutionäre Klasse) und b) Volksfrontszenarien (Einbeziehung von bürgerlichen Parteien und Kirchen, wobei diese einen starken politischen Einfluss in Bündnissen ausüben). Eine weitere Verirrung sind sogenannte „Querfront“strategien, die gemeinsam mit Faschisten gegen das Kapital und seinen Staat kämpfen wollen. Eine Besonderheit der antifaschistischen Einheitsfront ist die Notwendigkeit, gegen faschistische Kräfte von Anfang an gemeinsame Selbstverteidigungsgruppen von ArbeiterInnen (egal ob gewerkschaftlich organisiert oder nicht), MigrantInnen und Linken aufzubauen. Denn gegen faschistische Angriffe helfen weder Polizei noch Justiz, die im Gegenteil die Faschisten schützen.
45. In den halbkolonialen Ländern, bei unterdrückten Völkern sowie Migranten in den imperialistischen Metropolen kommt es auch oft vor, dass kleinbürgerliche Kräfte über großen Einfluss in der Arbeiterklasse verfügen. Als Beispiele seien genannt: diverse castro-chavistische Organisationen in Lateinamerika (die bolivarischen Parteien und Organisationen in Venezuela, Bolivien, Ecuador, populistische Massenorganisationen in Argentinien, etc.), bestimmte islamistisch-populistische Organisationen im Nahen Osten und Asien (z.B. Hamas, al-Qadri’s PAT in Pakistan, diverse FSA und islamistische Rebellengruppen in Syrien, Libyen, Ägypten, die Houthis in Jemen), fortschrittlich-populistische Organisationen in Asien und Afrika usw.; die nordirische Sinn Fein/IRA vor deren Kapitulation 1998; Sinn Fein in der Republik Irland, die baskische HB und deren Nachfolgeorganisationen, CUP in Katalonien, etc.; zahlreiche Migrantenvereine in den imperialistischen Ländern, Organisationen der Schwarzen in den USA und Britanniens etc.
46. Darüberhinaus sollten Revolutionäre die Einheitsfronttaktik auch auf Massenorganisationen anwenden, die andere unterdrückte Schichten (z.B. arme Bauern, städtische Armut, untere Schichten der Intelligenzija usw.) repräsentieren. Beispiele dafür sind die MST oder diverse Favelas-Organisationen in Brasilien, kämpferische Bauernorganisationen in Afrika, diverse kleinbürgerlich-demokratische Gruppen in Ägypten oder Tunesien etc. Gleiches gilt auch für kleinbürgerlich-nationalistischer und populistische Organisationen unterdrückter Völker (z.B. der palästinensischen Balad in Israel) und Migranten.
47. Weiters müssen Revolutionäre auch neue Entwicklungen berücksichtigen. In den letzten Jahren entstanden aufgrund des rapiden Verbürgerlichungsprozesses der traditionalen reformistischen Arbeiterparteien und dem Versagen des Zentrismus neue kleinbürgerlich-populistische Kräfte in imperialistischen Ländern. Beispiele dafür sind die Occupy-Bewegung 2011 und die daraus hervorgegangene Partei PODEMOS in Spanien. Diese Formationen können einen breiten Einfluss in der Arbeiterklasse und der Jugend erlangen. Revolutionäre sollten daher die Einheitsfronttaktik auch auf solche Formationen anwenden.
48. Räte (oder Sowjets) stellen die höchste Form der Einheitsfront dar. Sie treten in revolutionären Situationen in Erscheinung und wiederspiegeln einen Widerspruch. Die Macht der Ausbeuterklasse, die oft die Form einer Volksfrontregierung annimmt auf der einen Seite und die Macht der Arbeiterklasse auf der anderen Seite. Eines von beiden Lagern muss gewinnen und das andere zerschlagen. Sowjets ohne revolutionäre Führung werden von reformistischen, bürgerlichen, populistischen und zentristischen Kräften dominiert, die die Arbeiterklasse der Bourgeoisie unterordnen. Innerhalb der Sowjets kämpfen Revolutionäre um die Führung unter der Losung „Alle Macht den Räten“. Allerdings können in manchen Situationen andere Typen von Arbeitermassenorganisationen eine führende Rolle in der Revolution spielen. So kann es z.B. Aktionskomitees geben, die die Mehrheit der Arbeiterklasse repräsentieren, während sich die Räte, ein früheres Stadium der Kräfteverhältnisse widerspiegelnd, noch immer unter Führung der Reformisten und Zentristen befinden. Nach der Revolution stellen die Räte die Form der Herrschaft der Arbeiterklasse dar. Sie können eine sozialistische Koalitionsregierung von Kräften, die die Revolution verteidigen, bilden. Die Losung „für Räte ohne Kommunisten“ ist eine Losung der Konterevolution.
Die Einheitsfronttaktik und bürgerliche Kräfte
49. Grundsätzlich liegt der marxistischen Taktik der Einheitsfront eine „anti-bürgerliche“ Stoßrichtung zugrunde, wie Trotzki im Übergangsprogramm betonte. Das heißt, es gilt die Organisationen der Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten unterdrückten Schichten und Klassen allen Blöcken mit den Parteien oder individuellen Repräsentanten der Bourgeoisie entgegengesetzt. Das Proletariat weist natürlich für seine Aktionen die Unterstützung von sympathisierenden Individuen aus der Bourgeoisie nicht zurück. In den imperialistischen Ländern sind die bürgerlich-imperialistischen Parteien unfähig zu irgendeiner systematischen progressiven Aktion und Revolutionäre müssen sich gegen deren Teilnahme an der gemeinsamen Front der Organisationen der Arbeiter und Unterdrückten stellen. Sie weisen immer und unter allen Umständen jegliche Unterstützung für eine Regierung der reformistischen Arbeiterparteien mit den Parteien der Bourgeoisie, eine "linke Koalition" oder Volksfront, zurück. Falls eine Pseudo-Einheitsfront oder Volksfront zwischen den Massenorganisationen der Arbeiter und den bürgerlichen imperialistischen Parteien gebildet wird, müssen Revolutionäre versuchen, Taktiken zu entwickeln, die geeignet sind, diese bürgerlichen Parteien auszuschließen, indem sie den Arbeitern demonstrieren, dass die bürgerlichen Parteien nicht in der Lage sind, Massenkämpfe zu führen, dass sie diese behindern und verraten, dass die reformistischen Führer immer die Notwendigkeit des Erhalts der Unterstützung der Bürgerlichen als Vorwand verwenden, um Kämpfen auszuweichen.
50. Im Falle von bürgerlichen Kräften in halb-kolonialen Ländern oder unter ethnisch oder national unterdrückten Schichten in den imperialistischen Ländern (z.B. Migranten, Schwarze, unterdrückte Nationen etc.) liegt die Sache etwas anders. Aufgrund der Unterdrückung durch den Imperialismus sind diese bürgerlichen Kräfte einem permanenten Druck von oben ausgesetzt. Gleichzeitig verfügen sie auch öfters über nennenswerten Einfluss unter den ArbeiterInnen und anderer unterdrückter Schichten wodurch sie wiederum auch von unten einem Druck ausgesetzt sind. In bestimmten Situationen kann daher die Anwendung der Einheitsfronttaktik auch auf solche bürgerlichen Kräfte gerechtfertigt sein. Als Beispiele seien genannt: die chinesische Kuomintang in den 1920er Jahren, die Baathisten als sie Widerstand gegen die US-Aggression leistete, die Muslimbruderschaft nach dem Putsch in Ägypten 2013, die Taksim’s Red Shirt-Bewegung in Thailand während des Kampfes gegen die Putschisten usw. Im Falle eines Putschversuches würden Revolutionäre auch eine Volksfront- oder eine bürgerlich-populistische Regierung gegen die Konterrevolution verteidigen, ohne ihr jedoch politische Unterstützung zu gewähren (z.B. Allende in Chile 1973, die Regierung Morsi in Ägypten 2013, die Regierung der Taksim-Partei in Thailand 2006 und 2014 oder die die PT-Volksfrontregierung in Brasilien 2016).
51. Bei all dem dürfen Revolutionäre nicht vergessen, dass die Bourgeoisie der unterdrückten Völker den Kampf bei der nächstbesten Gelegenheit verraten wird. Revolutionäre sollten daher auf keinen Fall ihre eigenen Forderungen zurückstecken oder verbergen, um unsichere Verbündete aus dem Kleinbürgertum oder vereinzelte bürgerliche Prominente zu gewinnen. In den imperialistischen Ländern sind die bürgerlichen Schichten der Unterdrückten die Hauptkräfte des Kompromisses und der Preisgabe der Interessen der Unterdrückten. Das Proletariat muss versuchen, ihre Hegemonie zu brechen, ihre "Volksfronten" aufzulösen und sie durch Bewegungen mit proletarischen Einheitsfrontcharakter unter der revolutionären Partei zu ersetzen. Dennoch kann es notwendig sein, mit bestehenden Volksfront-Kampagnen gemeinsame Aktionen zu organisieren und sogar an ihnen teilzunehmen, um die bürgerliche Hegemonie zu brechen.
52. Aufgrund ihres schwankenden und stets zum Verrat bereiten Charakter gibt es keinen "reservierten" Platz der Bourgeoisie unterdrückter Völker und Schichten in der Einheitsfront, während Revolutionäre die Einbindung der plebejischen und ärmeren Teile des Kleinbürgertums aktiv anstreben. Niemals darf die Arbeiterklasse den Kampf für ihre ureigensten Klassenforderungen gegenüber dem nationalen Kapitalismus und der Bourgeoisie opfern, um eine Einheitsfront mit ihr zu ermöglichen. Dies wäre eine Volksfront.
53. Die anti-imperialistische Einheitsfront bedeutet keineswegs die Unterstützung sogenannter "anti-imperialistischer Regierungen". Kommunisten und Kommunistinnen können unter keinen Umständen eine bürgerliche Regierung unterstützen, eine Regierung ihrer eigenen Ausbeuter. Jede Regierung, die behauptet, "über den Klassen zu stehen" oder "das Volk als Ganzes" zu repräsentieren, ist ein Täuschungsmanöver. Wir unterstützen jede ernsthafte Aktion einer solchen Regierung gegen den Imperialismus (z.B. die Verstaatlichung und Enteignung imperialistischen Besitzes) oder gegen einen rechten Staatsstreich. Die Arbeiterklasse und die Unterdrückten können den Kampf für demokratische Rechte unterstützen, insofern diese ihnen die Organisierung und Entwicklung ihres revolutionären Kampfes erleichtern. Aber solche Kämpfe und Forderungen dürfen niemals eine sich selbst genügende und beschränkende Etappe darstellen. Selbst das freieste Parlament muss durch Sowjets ersetzt werden, und die demokratische Republik durch die proletarische Diktatur.
54. Kommunisten und Kommunistinnen würden militärische Aktionen gegen den Imperialismus unterstützen und an ihnen teilnehmen (z.B. in Nicaragua gegen die Contras, in Argentinien – im Krieg um die Malvinas – gegen Großbritannien, in Afghanistan und Irak gegen die imperialistischen Aggressoren, in Palästina gegen den Zionismus). Sie treten dabei für die Bewaffnung der Arbeiter und Unterdrückten und für demokratisch kontrollierte Arbeiter- und Volksmilizen ein. Auch in einem Bürgerkrieg gegen eine Diktatur können sich Kommunisten an einer militärischen Einheitsfront beteiligen, möglichst als eine unabhängige bewaffnete Einheit, und eine gemeinsame Disziplin im Kampf akzeptieren. Wir stellen fest, dass eine militärische Einheitsfront eine Form der Einheitsfront ist, die sich von gemeinsamen Aktionen für politische Ziele nicht qualitativ unterscheidet. Wenn wir für den militärischen Sieg solcher Bewegungen eintreten, die gegen den Imperialismus oder seine Handlanger kämpfen, unterstützen wir jedoch nicht den Sieg ihres politischen Programms. In einer solchen Einheitsfront kämpfen wir für unser eigenes Programm und versuchen, die Arbeiter und armen Bauern von der Bourgeoisie wegzubrechen und sie zum Kampf für die Errichtung einer Arbeiter- und Bauernregierung zu führen.
Die Einheitsfronttaktik und die Regierungslosungen
55. Die Taktik der Einheitsfront umfasst auch die Forderung an die „Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie“ (Trotzki) – also Sozialdemokratie, Stalinisten, kleinbürgerliche Populisten – mit der Bourgeoisie zu brechen und den Kampf für eine Arbeiter- und Bauernregierung bzw. eine Arbeiterregierung (in den meisten imperialistischen Ländern) aufzunehmen. In Zeiten der akuten politischen Krise kann dies zur wichtigsten Tagesforderung werden. Was ist eine echte Arbeiter- und Bauernregierung? Eine, die entschlossene Aktionen durchführt, um die Bourgeoisie zu entwaffnen und die Arbeiter und Bauern zu bewaffnen; eine, die die Arbeiter und Bauern im Kampf unterstützt, die Schalthebel der Macht im Kapitalismus – die Banken und großen Industriemonopole – in die Hand zu nehmen. Ein solcher Schritt kann natürlich nicht auf der Ebene der Wahl- und Parlamentspolitik durchgeführt werden. Den reformistischen Arbeiter und Bauern, die Illusionen in den Parlamentarismus haben, sagen wir: "Wählt Eure Partei an die Macht, zwingt sie, diese Maßnahmen zu ergreifen; aber Ihr müsst Eure Gewerkschaften und Parteien für die unausweichliche Erklärung des Bürgerkriegs durch die Bourgeoisie mobilisieren, falls Eure Führer irgendwelche ernste Maßnahmen gegen das Privateigentum ergreifen. Wir werden den Wahlsieg Eurer Partei kritisch unterstützen und gegen die Attacken der Bourgeoisie verteidigen." Zu den zentristischen Arbeitern, die glauben, daß eine Kombination von parlamentarischem Sieg und unabhängiger Massenmobilisierung ausreicht, sagen wir: "Es ist selbstmörderisch, die Massenaktionen der Arbeiter an einen Wahlkalender zu binden, an die Anerkennung parlamentarischer Mehrheiten und Minderheiten und im Namen des Respekts vor der Verfassung auf den Angriff auf die bewaffneten Arme das Staatsapparats zu verzichten." Einer "Arbeiter- und Bauernregierung", die nicht die Soldaten für ihre Seite gewinnt oder die Waffen den Händen der bürgerlichen Offizierskaste entreißt, die keine Arbeiter- und Bauernmiliz bewaffnet und die Polizeikräfte nicht auflöst, wird nur ein kurzes Leben beschieden sein.
56. Zwei zentrale Bedingungen müssen erfüllt sein, wenn Kommunisten und Kommunistinnen die Machtergreifung einer nicht-revolutionären politischen Kraft unterstützen. Erstens muß es sich um eine Massenorganisation der Arbeiterklasse bzw. der Unterdrückten handeln. Zweitens müssen die Kommunistinnen und Kommunisten klar machen, daß sie in politischer Opposition zu dieser Kraft bleiben werden. Revolutionäre würden eine solche Regierung gegen Umsturzversuche von rechts verteidigen, gewähren ihr jedoch keine politische Unterstützung und würden nur jenen Regierungsmaßnahmen zustimmen, die tatsächlich im Interesse der Arbeiter und der Unterdrückten liegen.
57. Unter bestimmten, außergewöhnlichen Umständen können die Kommunisten eine Regierung mit nicht-revolutionären Kräften der Arbeiter und Bauern bilden. Eine solche Regierung wäre noch keine Form der Diktatur des Proletariats. Wie jedoch schon die Kommunistische Internationale klar machte, können Kommunisten an einer solchen Regierung unter bestimmten strengen Bedingungen teilnehmen. Diese Regierung muss sich auf Arbeiter und Bauernräte sowie -milizen stützen. Sie würde sofort die Bourgeoisie angreifen und als Klasse entwaffnen; sie würde die Arbeiterkontrolle der Produktion einführen und den Kommunisten und Kommunistinnen volle Freiheit der Kritik an den Maßnahmen der Regierung erlauben. In einer solchen Regierung könnten die Kommunisten in der Minderheit sein. Kurzum: Derartige Regierungen sind revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung, eine Übergangsform zu der Diktatur des Proletariats selbst. Die Kommunisten würden versuchen, diese neue Position dazu zu nutzen, um den Sturz der Kapitalistenklasse zu vollenden und eine neue revolutionäre Diktatur der Arbeiterklasse zu errichten.
58. Es wäre aber völlig falsch zu glauben, dass Revolutionäre für Regierungen der Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie als eine notwendige und unvermeidliche Stufe kämpfen müssen. In bestimmten Fällen jedoch rufen Kommunisten nicht-revolutionäre Parteien der Arbeiterklasse und der Bauernschaft auf, eine Regierung zu bilden. Sie verknüpfen diese Unterstützung mit einem konkreten Übergangsprograms (Enteignung der Bourgeoisie, öffentliches Beschäftigungsprogram usw.) sowie der Forderung, dass sich diese Regierung auf Mobilisierungen und Massenorganisationen der Arbeiter und Unterdrückten stützen soll (Räte, Gewerkschaften etc.). Dabei hören Revolutionäre aber nicht auf, die Arbeiterklasse und die armen Bauern zu warnen, dass sie eine solche bürgerliche Arbeiter- und Bauernregierung von nicht-revolutionären Parteien den kapitalistischen Staat erhalten und wieder auf die Beine helfen wird. Wir werden niemals für eine Regierung von bürgerlichen Kräften aufrufen, noch für eine Koalition zwischen Arbeiter- oder Bauernparteien und solchen Kräften.
59. Die Taktik der Einheitsfront umfasst auch den möglichen Eintritt von Kommunistinnen und Kommunisten in nicht-revolutionäre – reformistische, kleinbürgerlich-populistische oder zentristische – Parteien (Entrismus-Taktik). Diese Taktik ist unter bestimmten Bedingungen legitim: wenn diese Parteien einen nennenswerten Sektor sich nach links radikalisierender Arbeiter, Unterdrückter oder Jugendlicher organisieren und die Möglichkeit gegeben ist, offen für das revolutionäre Programm zu kämpfen. Ein solcher Entrismus darf jedoch nicht von langer Dauer sein, da die Parteiführung eine konsequent kommunistische Opposition nicht dulden wird und ein weiterer Verbleib in der Partei nur durch opportunistische Anpassung erkauft werden kann. Dies unterstreichen die Erfahrungen diverser zentristischer Gruppen, die sich jahre- oder sogar jahrzehntelang in solchen Parteien einnisteten. (z.B. CWI früher und IMT bis heute, Morenoisten in ihrer peronistischen Phase, Lambertisten usw.)
Die Einheitsfronttaktik bei den Wahlen
60. Revolutionäre sollten nach Möglichkeit die Taktik der Einheitsfront auch bei Wahlen anwenden. Denn Wahlen sind ein, gerade auch in klassenkampfarmen Zeiten, wichtiges Feld der politischen Klassenauseinandersetzung. Revolutionäre streben an, bei der Teilnahme der klassenbewussten Teile des Proletariats am Wahlkampf sowie den Wahlen selber nicht abseits zu stehen, sondern mit entsprechenden Taktiken einzugreifen. Das heißt, dass wir, wenn eine Kandidatur von revolutionären Kommunisten nicht möglich ist, bei den Wahlen die Kandidaten der proletarischen Massenorganisation unterstützen, insbesondere derer, die die Unterstützung der kämpferischsten Teile unserer Klasse genießen. In der Regel bedeutet dies, dass die kritische Wahlunterstützung für nicht-revolutionäre Arbeiterparteien ein legitimes Mittel ist, um so den klassenbewussten Arbeitern zu helfen, ihre Illusionen in die reformistische Führung zu verlieren. Allerdings darf auch diese Taktik nicht schematisch angewandt werden. In Situationen, wo eine bürgerliche Arbeiterpartei (für gewöhnlich als Regierungspartei) sich als Einpeitscherin bzw. Exekutorin schwerer Angriffe auf die Arbeiterklasse erweist – Austeritätsprogramme, imperialistischer Krieg, rassistische Hetze, Angriff auf demokratische Rechte o.ä. – ist es notwendig, dass Revolutionäre nicht zur Wahl dieser Partei aufrufen um so der Avantgarde bei ihrem politischen Ablösungsprozess von dieser Partei zu helfen. Dies bedeutet im konkreten, entweder für die kritische Wahlunterstützung einer anderen, den Willen der fortgeschrittenen Arbeiter und Unterdrückten zum Kampf besser wiederspiegelnde Partei aufzurufen oder, wenn eine solche nicht bei den Wahlen antritt, für eine ungültige Stimmabgabe aufzurufen.
61. In Ländern, in denen keine Arbeiterparteien (auch keine reformistischen) existieren oder in denen die bestehenden bürgerlichen Arbeiterparteien bereits derartig degeneriert sind, dass sie relevante Teile der Avantgarde abstoßen, rufen Revolutionäre die Arbeiteravantgarde und die Massenorganisationen zum Aufbau einer neuen Arbeiterpartei auf. Dabei sind auch Zwischenschritte denkbar wie die Unterstützung von Revolutionären für Allianzen in diese Richtung oder die Gründung von neuen Organisationen besonders unterdrückter Schichten (z.B. Migrantenorganisationen), die dann auch eventuell bei Wahlen antreten können.
62. Die Losung einer Arbeiterpartei stellt eine besondere Form der Anwendung der Einheitsfronttaktik dar. Sie wird von kleinen kommunistischen Organisationen gegenüber reformistischen Organisationen mit einer Massenunterstützung innerhalb der Arbeiterklasse (z.B. Gewerkschaften,) in Ländern angewandt in denen keine große bürgerliche Arbeiterpartei existiert. Eine solche Arbeiterpartei muss von kapitalistischen und kleinbürgerlichen Parteien unabhängig sein und sollte bei den Wahlen gegen diese antreten. Eine solche Taktik kann Erfolg haben in Periode des intensiven Klassenkampfes Erfolg haben wie wir sie in der nächsten Zukunft erwarten können. Kommunisten rufen nicht zur Bildung einer reformistischen Partei auf, sondern kämpfen für die Annahmen eines vollständigen Übergangsprogrammes als dem Program dieser Partei. Eine solche Partei ist keine Propagandablock, der die politischen Verbrechen der Reformisten und Zentristen verschweigt. Innerhalb der Partei bilden die Kommunisten eine revolutionäre Tendenz auf der Grundlage eines vollständigen revolutionären Programms. Eine solche Tendenz strebt die Führung in einer solchen Arbeiterpartei an in dem sie die politischen Verbrechen der Reformisten und Zentristen in den aktuellen Klassenkämpfen anprangert. Dabei wird sie die jeweils wesentlichen Minima- und Übergangslosungen aufstellen, die die Einheit der Arbeiter und Unterdrückten im Kampf gegen den kapitalistischen Klassenfeind ermöglichen. Eine solche Partei kann und soll die Einheitsfronttaktik mit anderen Kräften gegen den gemeinsamen Feind auf der Grundlage des Prinzips „getrennt marschieren, vereint schlagen“ anwenden.
63. Dort wo es keine Arbeiterparteien mit Massenbasis gibt bzw. diese einem massiven Verbürgerlichungsprozess unterliegen und gleichzeitig kleinbürgerlich-populistische Parteien mit Masseneinfluss unter den Arbeitern bzw. den Unterdrückten existieren, ist auch eine kritische Wahlunterstützung für letzere legitim. Eine solche Praxis haben beispielsweise die Bolschewiki gegenüber den kleinbürgerlich-populistischen Parteien der Trudowiki und der Sozialrevolutionäre in Russland angewandt, später die Komintern gegenüber populistischen Kräften in Mexiko in den frühen 1920er Jahren oder auch die US-amerikanischen Trotzkisten gegenüber der Farmer-Labor-Party in den 1930er Jahren. Heute können dies kleinbürgerliche-populistische Parteien in Halbkolonien sein (z.B. Morales und die MAS bei der ersten Wahl 2005, Julius Malemas EFF in Südafrika, Sinn Fein in der Republik Irland, die palästinensische Balad sowie die Unity List in Israel etc.); dies können kleinbürgerlich-nationalistische Parteien unterdrückter Nationen sein (z.B. kämpferische Parteien der Tamilen wie die TNA in Sri Lanka, die nordirische Sinn Fein/IRA vor deren Kapitulation 1998, die baskische HB und deren Nachfolgeorganisationen, CUP in Katalonien, etc.); und dies können auch neue kleinbürgerlich-populistische Parteien in imperialistischen Ländern wie George Galloways RESPECT in Britannien sein.
64. Diese kritische Wahlunterstützung geben wir solchen nicht-revolutionären Parteien, während wir gleichzeitig ihre bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Programme denunzieren und sie auffordern, mit den Kapitalisten zu brechen und diese nicht nur in Worten, sondern auch in Taten zu bekämpfen. Niemals aber können wir zur Wahl oder die Machtergreifung von Parteien bzw. Kandidaten der Bourgeoisie – weder in den imperialistischen noch in den halbkolonialen Ländern – aufrufen. Revolutionäre Marxisten treten für eine Arbeiter- und Bauernregierung und nicht eine Arbeiter-, Bauern- und Teile der Bourgeoisie-Regierung ein. Dies wäre nämlich eine Volksfrontregierung. Solch offen bürgerliche Parteien sind Vertreter der unmittelbar herrschenden Klassen, gegen die Revolutionäre die Arbeiter und Unterdrückten zu mobilisieren trachten. Eine elektorale Unterstützung für eine solche Partei wäre daher kein Schritt in Richtung Klassenunabhängigkeit, sondern in Richtung Unterordnung des Proletariats und der Unterdrückten unter die Bourgeoisie. Wir würden alle Arbeiter- bzw. Bauernparteien auffordern, mit bürgerlichen Kandidaten, die in ihren Listen aufscheinen, oder mit einer Volksfrontliste zu brechen. Unter bestimmten Umständen können wir jedoch auch für die Kandidaten einer Arbeiter- bzw. Bauernpartei auf einer Volksfrontliste stimmen, indem wir nicht für die bürgerlichen Kandidaten stimmen bzw. diese von der Liste streichen.
Zusammenfassung
65. Zusammengefasst: die Einheitsfronttaktik ist ein zentrales Mittel der bolschewistisch-kommunistischen Organisation, i) um für die breitestmögliche Einheit der Arbeiterklasse und der mit ihre verbündeten unterdrückten Schichten und Klassen zu erringen und ii) um gleichzeitig dahingehend zu wirken, die unheilvolle Vorherrschaft der reformistischen, kleinbürgerlich-populistischen oder zentristischen Führungen abzulösen und durch eine entschlossen revolutionäre Führung zu ersetzen. Wichtigste Voraussetzung dafür ist ein klares, unabhängiges Profil der revolutionären Kommunisten und der erfolgreiche Aufbau einer bolschewistischen Kampforganisation.